Die Genossenschaftsidee: Ein immaterielles UNESCO-Kulturerbe?
Die genossenschaftliche Idee – wie könnte man sie am klarsten und prägnantesten formulieren? In einem Wort vielleicht so: Gemeinsame Selbsthilfe von Gleichen. Sie ist unter den menschlichen Verhaltensweisen mit Sicherheit eine der ältesten, sonst wäre die Menschheit bereits in ihren Anfängen wieder eingegangen. Schon bei Kindern ist sie wie selbstverständlich vorhanden. Und über die Jahrtausende hin sind aus dieser allgemeinen Verhaltensweise allmählich am Ende unter den ganz besonderen Bedingungen der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts das genossenschaftliche Unternehmenskonzept, das Genossenschaftsgesetz und sogar die Genossenschaftsverbände entstanden. Egal, wie sich diese Formen noch entwickeln werden (vielleicht verschwinden ja mal die Verbände wieder, wie die Saurier), die gemeinsame Selbsthilfe, die Idee der Genossenschaft, wird die Menschheit bis an ihr Ende begleiten, unbeirrt von allen historischen Entwicklungen.
Aber da gibt es ja die UNESCO, die sich, wie wir alle spätestens seit den Auseinandersetzungen um die Dresdner Waldschlösschenbrücke wissen, dem Weltkulturerbe widmet. Seit rund zehn Jahren gehört dazu nicht nur das gegenständliche Erbe, wie die Himmelsscheibe aus Nebra, sondern auch das immaterielle Kulturerbe. So gibt es viel zu tun: Da ist die Falknerei in Österreich, die Echternacher Springprozession, das Frühlingsfest Novruz in den Ländern von Aserbaidschan bis Usbekistan, die Pfeifsprache El Silbo auf den Kanaren (genauer: auf Gomera), der Ojikanje-Gesang in Kroatien, der Volkstanz Tancház in Ungarn und noch vieles mehr. Hinter den Bemühungen der UNESCO steht die Sorge, dass bestimmte Arten von Theater, Tanz, Musik, mündlichen Überlieferungen, Bräuchen, Festen, Handwerkskünsten der Menschheit verloren gehen könnten. Die Welt würde ärmer werden. Damit also dieses immaterielle Kulturerbe erhalten bleibt, legt die UNESCO Listen des erhaltenswerten Erbes an und fördert es dann in unterschiedlicher Weise. Das ist eine großartige Aufgabe.
Nun sind die Schulze-Delitzsch-Gesellschaft und die Raiffeisen-Gesellschaft auf den Einfall gekommen, die UNESCO möge auch die Idee der Genossenschaft auf die Liste des immateriellen Kulturerbes setzen. Der „Genossenschaftsverband“ (der mit Sitz in Frankfurt/Main) teilt dies auf seiner Website mit, nicht ohne den Hinweis, dass in Deutschland mehr als 21 Millionen Menschen Mitglied in einer Genossenschaft seien. Das heißt also nichts anderes, als dass diese zig-Millionen zu schwach sind, um die Idee, für die sie sich engagieren, am Leben zu erhalten. Dafür brauchen sie die UNESCO. Dass es den elf Menschen, die als einzige heute noch die Technik der chinesischen Holzdruckerei beherrschen, gelungen ist, die Aufmerksamkeit der UNESCO für diese Technik zu wecken, war notwendig. Es wäre schön, wenn nun ihre Technik bewahrt bliebe. Dass die fast eine Milliarde Menschen, die weltweit Mitglied in einer Genossenschaft sind, für den Erhalt ihrer Idee die Unterstützung der UNESCO brauchen, ist dagegen eine groteske Vorstellung.
Übrigens, der Freund, der mich auf die erwähnte Website des „Genossenschaftsverbandes“ (dem mit Sitz in Frankfurt/Main) aufmerksam machte, fragte äußerst süffisant, ob ich wohl künftig als Vorsitzender eines genossenschaftlichen Aufsichtsrates so etwas wie ein Museumswärter sei und eine besondere Mütze tragen müsste. Im Ernst, wer die Idee der Genossenschaft als immaterielles Kulturerbe der UNESCO anvertrauen will, hat keine Idee von der Genossenschaft als dynamischem Unternehmenstyp. Aber Ideen haben’s schon, manche Genossenschafter. Da graust’s einen.
Wilhelm Kaltenborn
April 2014